Wie alles begann …

»Wach auf, du Schlafmütze!«
Eine Stimme, so unendlich zart und mir durchaus bekannt, drang in mein Ohr und schlich sich in meinen Traum hinein. Ich wusste, wem diese Stimme gehörte und wusste auch, dass sie nichts in meinem Traum verloren hatte. Und dennoch wandte ich mich ihr zu, wollte ihre Hand greifen und sie zu mir heranziehen. Zärtlich. Voller Liebe.
»Der Wecker hat längst geklingelt!«
Jetzt klang die Stimme energischer, wenn auch noch immer sanft. Ich murrte im Schlaf, wollte noch nicht aufwachen, mich schon gar nicht aus der kuscheligen Decke herausquälen, um mich in den Alltag zu stürzen. Was dort alles wartete, endlich erledigt zu werden – nee, darauf konnte ich erst mal verzichten.
Sina hauchte mir ins Ohr. Mich durchlief ein angenehmer Schauer, als sie daran leckte und knabberte. Ihr Atem war heiß, er verlangte nach mehr. Augenblicklich war ich wach, ein Gefühl der Lust erwachte in meinem Körper. »Aufstehen, Steffen, die Arbeit wartet!« Sie sagte das mit einem Lachen in ihrer Stimme, weil sie wusste, wie ich auf ihre Annäherung reagieren würde. Genauso wusste sie, dass ich meine Arme aus der Bettdecke herauszerren und nach ihr greifen würde. Um sie zu mir herzuziehen, ihre Haut auf meiner zu spüren. Gerade jetzt verzehrte ich mich nach ihr, nach der Sanftheit ihrer Berührung, dem Duft ihres Körpers.
Doch Sina kannte mich zu gut. Sie wusste, dass sie sich nicht mehr aus meinen Armen herauswinden könnte, sobald ich sie erst einmal umschlossen hatte. Nach dem Angriff auf mein Ohr hatte sie längst das Bett verlassen, während meine Arme nach ihr fischten.
»Du bist gemein!«, murmelte ich enttäuscht.
»Und du musst aufstehen. Heute ist deine Präsentation. Ich dachte, sie wäre wichtig?«
»Och, die obere Etage hab ich doch längst in der Tasche!« Das war eine glatte Übertreibung, aber vielleicht glaubte sie es ja. »Es ist noch genug Zeit für einen Quickie!«
Sina lachte. Doch sie tapste in ihrem kurzen Negligé ins Bad, ließ die Tür einen Spalt offen. Mit meinen Augen zog ich sie aus, denn zu etwas anderem war dieses hauchdünne Teil an ihr auch gar nicht gedacht: Es war so seidig zart und fast durchscheinend, ließ die wunderbare Figur meiner Freundin total sexy erscheinen. Es offenbarte den Tanga darunter, die knackigen Pobacken, ihren flachen Bauch, die Brüste, die sich doch so offensichtlich nach Liebkosung sehnten …
Ihr Frauen seid gemein. Werft euch in solch eine edle Verpackung und lasst uns Männer dann nicht auspacken.
Es war geradezu absurd, wie sie den bordeauxroten Stoff einfach auf den Boden fallen ließ und ich im Bett lag und nichts tun konnte. In meiner Fantasie versuchte ich zu verhindern, dass sie sich den BH anzog. Streifte ihr das Teil wieder ab – wie etwas Kostbares, das zerbrechen könnte.
Doch es half nichts. Sie streifte sich ihre Bluse über, die zu allem Überfluss auch noch an den Brüsten spannte. Ich hoffte sehr, dass die anderen Männer dies nicht sahen, glaubte es allerdings nicht. Vielleicht gab es ja sogar welche, die mehr von ihr wollten, die sie in ihre Arme nehmen und liebkosen würden. Ich spürte die Eifersucht in mir aufglühen, aber dann beruhigte ich mich wieder. Sie gehörte zu mir, wir zwei waren zusammen und ich konnte sie ganz allein vernaschen.
Nur leider nicht jetzt.
»Ich habe ebenfalls einen Termin«, riss sie mich aus den Gedanken, holte mich zurück in die Wirklichkeit. Sie kämmte sich nun ihr langes brünettes Haar, das über ihre Schultern fiel.
»Aber ich komme hier nicht alleine raus«, fing ich an zu jammern. »Ich bin so ganz ohne Antrieb, da wird das mit meiner Präsentation heute wirklich nichts. Du musst unbedingt …«
Ihr glockenhelles Lachen ließ mich verstummen. Jetzt wusste ich, dass es keinen Zweck hatte, denn Sina war da sehr konsequent. Wenn sie einmal Nein gesagt hatte, dann blieb es auch dabei.
»Heute Abend, mein Schatz, da werde ich für dich da sein!«, hörte ich ihre Stimme aus dem Bad. »Dann können wir feiern!«
»Versprochen?« Jetzt saß ich immerhin schon, das war ein guter Anfang.
»Versprochen«, war ihre Antwort.
Da wusste ich, dass der Abend eines hoffentlich tollen Tages ein heißes Ende nehmen würde …

Nach dieser Ablenkung raffte ich mich aus dem Bett, packte nach einer guten Tasse Kaffee meine Unterlagen und machte mich auf ins Büro. Heute hatte ich kein Kundengespräch, daher konnte ich meinen grünen Alfa Romeo am Straßenrand stehen lassen. Die Benzinpreise waren mal wieder explodiert, da war es besser, ihn nicht zu benutzen, wenn es nicht sein musste. Außerdem waren die Parkplätze in der Innenstadt Münchens wirklich rar, da zog ich eine Fahrt mit der S-Bahn vor.
Die mir genau vor der Nase wegfuhr!
Mist! Dann musste ich eben den Bus nehmen. Ich stellte mich zu der Menschenmenge an der breiten Kreuzung am Busbahnhof. Trotz des Missgeschicks würde ich noch rechtzeitig in der Firma ankommen, da war ich mir sicher. Und außerdem mussten die Bosse vor jedem Meeting noch etwas unter sich regeln, sodass sie grundsätzlich später anfingen als angegeben. So war es schon immer gewesen, ich hatte also genug Zeit.
Während ich an der dämlichen Ampel wartete, wanderten meine Gedanken zu Sina – und zu dem, was sie mir versprochen hatte. Ich lächelte. Nach ihrem Yogakurs heute Abend würde ich mit ihr beim Griechen essen und wenn alles gut ging, hatte ich dann die Überraschung für sie in der Jackentasche. Ich fühlte die kleine Ausbuchtung durch den Stoff hindurch. Eine winzige Schatulle, in der der Verlobungsring lag. Endlich hatte ich mich durchgerungen, endlich wagte ich den Schritt. Sie war die Richtige für ein gemeinsames Leben, vielleicht schon bald mit Kindern. Ich würde ihr eine perfekte Zukunft bieten können, später würden wir uns ein Haus kaufen, mit Garten und allem, was dazugehörte. Demnächst wurde in meiner Firma eine Stelle frei und ich war derjenige, der dort hineinrutschen konnte. Seit zehn Jahren mühte ich mich ab, hatte immer wieder bewiesen, wie viele Ideen ich hatte, und mich stets von der besten Seite gezeigt. Heute würde ich wieder eine umwerfende Strategie präsentieren. Ich war bereit, das Treppchen emporzuklettern.
Mit dem Strom der Menschen setzte ich mich in Bewegung. Den Mann, der sich mir entgegen durch die Menge drängte, bemerkte ich viel zu spät. Er sah zerrissen aus, sein Hemd hing aus der Hose, die Schuhe waren schmutzig, die Haare ohne Glanz und völlig zerzaust. Sein Gesicht sah gequält aus, er schaute sich ständig um – als würde ihn jemand verfolgen. Nicht zum ersten Mal rempelte er Leute an, und als er auf mich traf, begegneten sich unsere Blicke.
»Nehmen Sie das!«, keuchte er. »Bitte!«
Er streckte mir ein altes Buch entgegen, das noch schäbiger aussah als sein Mantel. Seine Hände zitterten, sie waren mit Striemen übersät und blutverschmiert. Überrascht wich ich einen Schritt zurück. Er blieb jedoch hartnäckig und versuchte, das Buch in meine freie Hand zu drücken. Als ich es berührte, zuckte ich zurück. Ich hatte einen Stromschlag bekommen oder etwas in der Art. Für einen Moment hatte ich tatsächlich geglaubt, meine Hände würden verbrennen.
»Bitte, helfen Sie mir, ich schenke es Ihnen!«, rief er mit vor Schreck aufgerissenen Augen.
Entschlossen wehrte ich ab. »He – lassen Sie mich in Ruhe!«
Wollte der Mann mir vielleicht Hehlerware andrehen? Offensichtlich gehörte er zu den Typen, die in der Nähe des Bahnhofs herumlungerten. Schnell tastete ich nach meinem Portemonnaie in der Hosentasche. Zum Glück war es noch da. Diesen Verbrechern traue ich zu, absichtlich Leute anzurempeln, um unbemerkt an deren Geld zu kommen. Anschließend würden sie sich davon Schnaps holen und später in den Ecken der Bahnhofshalle ihren Rausch ausschlafen.
Der Obdachlose ließ von mir ab. Drängte sich an mir vorbei, noch immer mit diesem verzweifelten Ausdruck in den Augen. Als ich ihm nachschaute, schlug er sich durch die Menge, als wäre jemand hinter ihm her. Unwillkürlich schaute ich wieder nach vorn. Tatsächlich, zwei schwarz gekleidete Männer kämpften sich ebenso hastig durch die Menge. Als wollten sie den Typen erwischen – vielleicht waren sie Polizisten, die ihn schon lange beobachtet hatten und auf frischer Tat ertappen wollten? Oder andersherum, der Mann floh vor Verbrechern?
Ich kam nicht dazu, die beiden näher in Augenschein zu nehmen. Hinter mir quietschte es fürchterlich, der Fahrer eines ziemlich großen Fahrzeugs stieg gerade voll in die Eisen. Noch während ich mich umdrehte, schrie ich laut auf vor Schreck: Nur wenige Schritte von mir entfernt ratterte ein Laster vorbei. Im selben Augenblick schlug etwas dumpf gegen Blech und mit einem schrillen Quietschen kam der Wagen endlich zum Stehen. Menschen schrien und rannten durcheinander.
»Der hat ihn totgefahren!«, kreischte eine Frau auf der anderen Seite.
Unschlüssig schaute ich mich um. Eine Sekunde lang kämpfte ich mit mir, ob ich einfach weitergehen sollte, um noch rechtzeitig den Bus zu bekommen. Es standen viele Leute herum, manche gingen bereits eilig davon, aber andere gafften unverhohlen oder quatschten in ihr Handy. Ich hörte jemanden ins Telefon brüllen: »Unfall! Ja, hier, direkt am Bahnhof! Ein Laster hat einen Typen erwischt ... Nein, ich weiß nicht, ob er verletzt ist ...«
Die Fußgängerampel sprang auf Rot um. Niemanden kümmerte es. Mir kam der Gedanke, dass dieser Unfall eine gute Entschuldigung für meine verspätete Ankunft in der Firma gäbe. Ich schämte mich aber gleich für diesen Gedanken, hechtete zur anderen Seite des Lastwagens, wo das Opfer liegen musste. Ein kurzer Blick durch die Frontscheibe des Unfallwagens – der Fahrer saß wie erstarrt auf dem Sitz, kalkweiß im Gesicht und rührte sich nicht. Dann sah ich das Opfer. Der Mann, der mir vorhin erst das Buch hatte geben wollen, war überrollt worden. Seine Beine waren ab dem Unterleib nur noch Brei.
Es hatte sich bereits eine Traube von Menschen gebildet. Sie standen um ihn herum, entsetzt, denn es gab nichts mehr zu tun. Der Schock stand allen ins Gesicht geschrieben, ich war wie gelähmt, zumindest im ersten Augenblick. Doch ich beschloss, wenigstens noch mit ihm zu reden.
Der Verletzte war bei Bewusstsein, aber es konnte nicht mehr lange dauern, ehe er … Den Ekel hinunterwürgend kniete ich mich zu ihm nieder. Konnte nichts sagen. Betrachtete sein hageres Gesicht. Dann das vor sich hin sickernde Blut. Es glänzte im Morgenlicht, rann in schmalen Bächen die Straße entlang, vorbei an dem Buch, welches der Typ mir hatte aufzwingen wollen.
Es war aufgeschlagen, die Seiten schimmerten gelb, wurden vom Wind bewegt. Offensichtlich hatte es auch schon einige Spritzer Blut abbekommen. Ich entdeckte schön verzierte Buchstaben am Kapitelanfang und sorgfältig gemalte Buchstaben im Text. Ohne dass ich viel von antiken Büchern verstand, war ich mir doch sicher: Dieses Buch war zu wertvoll, um es in einer Blutlache enden zu lassen. Vorsichtig hob ich es vom Boden auf, damit ich nicht mit dem Blut des Verletzten in Berührung kam.
Ich blätterte in den Seiten und betrachtete die schöne Handschrift. Das Buch war nicht komplett beschrieben, am Ende waren noch einige Seiten frei. Da meine Neugier nun doch recht groß war, überflog ich die letzten Sätze: Und auch dieser Mensch erliegt nun seinen Sünden. Er wird verdammt und mir bedingungslos ergeben sein. Der sechste Teufel ist erschaffen, auf immerdar!
»Sie … müssen das nehmen!«, flüsterte der Mann. Sein Atem ging pfeifend und seine blutverschmierte Hand zeigte zitternd auf das Buch. »Ich … ich habe es nicht geschafft. Aber Sie … Sie müssen sich wehren … der Welt steht Entsetzliches bevor, wenn Sie nicht …«
Sein Reden brach ab. Seine Augen waren erstarrt, sie schienen mich anzusehen, wieder mit dem flehenden Blick. Schnell schloss ich seine Augenlider. Für ihn war das Leben vorbei, endgültig. Wie hatte es nur zu diesem schrecklichen Unfall kommen können? War es die Angst vor den beiden Männern, die ihn verfolgt hatten?
Verstohlen sah ich mich um und entdeckte sie tatsächlich. Die Männer starrten mich an, als wäre ich für das Schicksal des armen Mannes verantwortlich. Sie wirkten merkwürdig – blass und mit dunklen, stechenden Augen. Ihre Kleidung hob sich nicht von anderen Menschen ab und doch – irgendwie waren sie anders. So fremd. Sie warfen sich einen Blick zu, drehten sich schließlich um, verschwanden in der Menge und damit aus meinem Blickfeld.
Ich schüttelte mich, die abenteuerlichsten Ideen schossen in meinen Kopf. Waren sie hinter dem antiken Buch her? War es so wertvoll, dass man seinetwegen verfolgt und in den Tod getrieben wurde?
Was für ein Quatsch – ich war in keinem Abenteuerfilm! Außerdem hätten sie doch irgendwelche Anstalten gemacht, es auch mir wegzunehmen, anstatt einfach wegzugehen.
Unschlüssig wischte ich die Gedanken über die Fremden fort. Wandte mich dem Buch, meinem Geschenk, zu. Mit einem Taschentuch wischte ich das Blut vom Einband ab und betrachtete es von allen Seiten. Zugeklappt sah es beeindruckend aus: Der mit einer Silberplatte ausgestattete Umschlag war auf der Oberseite mit feinem Filz beklebt, mittendrin befanden sich verschlungene Gravuren. Auch einige seltsam geformte Siegel waren vorhanden. Ja, es musste antik sein, die Schriften darauf waren keine, die ich jemals gesehen hatte. Und innen ...
Anfangs vorsichtig, dann aber doch energischer, versuchte ich, das Buch wieder zu öffnen. Irgendwas hatte sich verklemmt, vielleicht einer der Verschlüsse. Oder es besaß einen Mechanismus, den ich noch nicht entdeckt hatte. Vorhin war es offen gewesen, nur jetzt, aus irgendeinem Grund, wollte es mir sein Innerstes nicht zeigen.
Enttäuscht drehte ich es noch einmal in alle Richtungen. Es gehörte mir ja nicht einmal. Andererseits hatte der Typ es mir schenken wollen. Nur weil ich so überrascht gewesen war, hatte ich es abgelehnt. Schade, dass wir uns nicht unter günstigeren Umständen getroffen hatten, dann hätte ich bestimmt erfahren, was es mit diesem seltsamen Objekt auf sich hatte.
Aber nun war der Besitzer tot, jede Hilfe kam zu spät. Inzwischen waren Krankenwagen und Polizei eingetroffen, es herrschte reges Treiben. Die Schaulustigen drängten sich so sehr, dass sich zwei Sanitäter mit einer Trage durch die Menge kämpfen mussten.
»Kennen Sie den Mann?«, fragte mich einer der beiden.
Ich schüttelte den Kopf. Kennen – nein. Doch die ganze Zeit hatte ich in dieses Gesicht gestarrt und in diesem verzweifelten Ausdruck nach Antworten gesucht.
»Er hat mir das hier gegeben.« Ich hielt dem Sanitäter das Buch hin, fragend, weil ich nicht wusste, was ich damit tun sollte.
Der in Rot gekleidete Mann warf einen kurzen Blick darauf. »Dann gehen Sie zur Seite. Wir brauchen hier Platz. Wenn Sie Zeuge waren, melden Sie sich bei der Polizei.«
»Nein, bin ich nicht«, entgegnete ich. »Aber dieses Buch schien ihm ...«
»Bitte zur Seite!«, brüllte der Sanitäter. Die Anweisung galt nun allen, die um das Unfallopfer herumstanden und sensationslüstern gafften. Mich eingeschlossen.
Na gut, dann würde ich eben gehen. Der Rettungssanitäter hatte das angeordnet und ich würde den Teufel tun, mich zu wehren. Schnell befühlte ich meine Jackeninnentasche, ob sie groß genug war, dieses kostbare Buch zu beherbergen, und ließ es darin verschwinden.


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